Die “musikalischen Expeditionen” des Johann Melchior Gletle

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Zwischen der Schweiz und dem heute bayerischen Schwaben bestand in der Vergangenheit eine lange Verbindung durch rege kulturelle Beziehungen. Namen wie Strigel und Holbein, aber auch viele andere weniger bekannte Künstler sind Zeugen für diese alte Partnerschaft. In diesem größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang sind auch gewisse schweizerisch-schwäbische Wechselbeziehungen auf musikalischem Gebiet zu verstehen, wie sie sich etwa im Lebenslauf des Komponisten Johann Melchior Gletle zeigen. Dieser stellt eine völlig zu Unrecht unbeachtete Figur der süddeutschen und schweizerischen Musikwelt des 17. Jahrhunderts dar. Seine geistlichen Vokalkompositionen zeichnen sich in stilistischer Hinsicht als wichtiges Bindeglied zwischen den geistlichen Konzerten von Heinrich Schütz (1585-1672) und Dieterich Buxtehude (1637-1707) aus. Interessanterweise tragen diese den äusserst unkonventionellen Titel „Expeditiones Musicae“. Laut der Widmung im ersten Band (1667) handelt es sich dabei um „non militarem quidem illam, sed Musicam Expeditionem“: Expedition(en) also nicht militärischer, sondern musikalischer Art.

Sein musikalischer Weg führte den aus dem Städtchen Bremgarten im Kanton Aargau stammenden Musiker in die Fugger-Stadt Augsburg. In dieser seit Generationen in Sachen Wirtschaft, Kunst und Kultur berühmten schwäbischen Reichsstadt wurde er mit 25 Jahren zum Domorganisten gewählt und später auch noch zum Domkapellmeister bestellt. Neben seinen Verpflichtungen in diesen Ämtern wurde er durch die Komposition von 250 erhaltenen und einem Mehrfachen an nicht erhaltenen Werken, sowie die Drucklegung seiner umfangreichen Kompositionen, zum fruchtbarsten Komponisten Augsburgs bis heute.

Die herausragende Bedeutung Johann Caspar Kerlls (1627-1693) für die Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts ist heute allgemein bekannt. Dieser unterhielt persönliche Beziehungen zu Johann Melchior Gletle und wurde zum Lehrer seines Sohnes Johann Baptist. Obwohl Kerll als Komponist sehr umfassend tätig war, stehen heute vor allem seine Werke für Tasteninstrumente im Fokus der Rezeption, während die Vokalkompositionen noch weitgehend einer Wiederentdeckung harren. Seine geistlichen Konzerte, die er 1669 unter dem Titel "Delectus Sacrarum Cantionum" in München publizierte, galten lange Zeit als verschollen und sind erst seit Kurzem in einer modernen Edition verfügbar. Diese qualitativ äusserst hochstehenden Werke stellen eine Weiterentwicklung der von Viadana begründeten Gattung des kleinbesetzten geistlichen Konzerts dar, die bereits zuvor im deutschen Sprachraum von Schütz, Schein und Scheidt entscheidende Impulse erhielt.

Durch ihr gemeinsames Interesse für wenig bekannte geistliche Vokalmusik des 17. Jahrhunderts verbunden, haben sich die beiden jungen Musiker Christoph Anzböck und Stefan Steinemann zusammengefunden, um der Musik Johann Melchior Gletles und der wenig bekannten Sammlung Johann Caspar Kerlls zu größerer Wahrnehmung und neuer Rezeption im Konzertleben zu verhelfen. Während der eine als Kirchenmusiker des Benediktinerklosters Mariastein in relativer Nähe zu Gletles Geburtsort tätig ist, waltet der andere als direkter Nachfolger des Aargauers am Dom zu Augsburg. Mit ihren jeweiligen, auf die Musik des 17. Jahrhunderts spezialisierten, Ensembles "ad·petram" und "InVocare" machen sie sich nun daran, diesen neuen musikalischen Schatz zu entdecken.

PROGRAMM

Johann Melchior Gletle (1626-1683)

Werke aus "Expeditionis musicae classis I-V":

Motettae sacrae concertatae, op. 1, Augsburg 1667

Psalmi breves, op. 2, Augsburg 1668

Motettae a voce sola, op. 5, Augsburg 1677

Litaniae, op. 6, Augsburg 1681

Johann Caspar Kerll (1627-1693)

Werke aus:

Delectus sacrarum cantionum, op. 1, München 1669

Biographisches zu Johann Melchior Gletle

Johann Melchior Gletle wurde im Juli 1626 in Bremgarten geboren. Seine Ausbildung erhielt Gletle am Jesuitenkolleg in Freiburg/Fribourg, wie er denn auch später enge Beziehungen zu den Jesuiten unterhalten und seine Kinder auf das Jesuiten-Gymnasium St. Salvator in Augsburg geschickt hat. 1651 erhielt er die Berufung als Domorganist nach Augsburg. Noch im selben Jahr wurde der Carissimi-Schüler Philipp Jacob Baudrexel, frisch vom Collegium Germanicum in Rom zurückgekehrt, zum Kapellmeister bestellt. Fast gleichzeitig übernahmen also zwei fähige junge Kräfte, die nahezu gleichaltrig waren, die beiden wichtigsten Ämter der Augsburger Dommusik. Zweifellos war die zeitweilige Zusammenarbeit mit Baudrexel für Gletles Kompositionsstil und seine spätere kirchenmusikalische Aufführungspraxis nicht ohne Bedeutung. Bereits nach zweieinhalb Jahren bat Baudrexel allerdings um die Entlassung aus dem Amt, da er sich um die Stelle eines Stadtpfarrers in Kaufbeuren beworben hatte. Johann Melchior Gletle bewarb sich um die Nachfolge als Domkapellmeister und erbot sich neben dem Kapellmeisteramt den Organistendienst weiterhin zu versehen. Er wurde zunächst auf Probe mit beiden Aufgaben betraut und enttäuschte offenbar die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht; denn er versah seine beiden Ämter bis zu seinem Tod im Jahr 1683. Neben den Verpflichtungen in zwei Positionen, seiner umfangreichen Kompositions- und Publikationstätigkeit wurde er Vater von fünfzehn Kindern, von denen mehrere später zu angesehenen und einflussreichen Stellungen kamen.

(vgl. Peter & Silja Reidemeister (Hrsg.), Johann Melchior Gletle, 36 Solomotetten op. 5, Editionen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft 2, Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2015)

Die Ensembles

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Das Ensemble ad·petram wurde im Jahr 2019 in Basel gegründet und steht unter der Leitung des Cembalisten, Organisten und Dirigenten Christoph Anzböck. Seit seiner Gründung wirkt es als „Ensemble in Residence“ des Benediktinerklosters Mariastein im Kanton Solothurn. Es setzt sich aus Musikerinnen und Musikern zusammen, die sich vornehmlich der Pflege geistlicher Musik des 17. und 18. Jahrhunderts widmen und ihren Fokus dabei auf das Repertoire des süddeutschen und italienischen Sprachraumes legen. Durch die Verbindung zum Benediktinerkloster Mariastein ist es erklärte Aufgabe des Ensembles, auch jene Werke neu zu entdecken, die in klösterlichem Kontext entstanden sind, und heute oft noch vergessen in Bibliotheken und Archiven schlummern. Durch die Jahrhunderte haben die musikalischen Kräfte der Klöster einen unschätzbaren und kaum zu überblickenden Reichtum an musikalischen Formen geschaffen. Diesen kulturellen Schatz zu pflegen und (wieder-)erlebbar zu machen, hat sich das Ensemble ad·petram zur Aufgabe gemacht. Die Arbeit im Kirchenraum der Basilika Mariastein und die Möglichkeit, diese Musik in jenem Kontext erklingen lassen zu können, für den sie ursprünglich erdacht war, wirkt auf das Ensemble als beglückende Quelle der Inspiration.

Alle Musiker und Sänger des Ensembles haben sich in ihrer Ausbildung an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis oder anderen internationalen Hochschulen auf historische Aufführungspraxis spezialisiert und sind heute Mitglieder bedeutender und international erfolgreicher Ensembles für Alte Musik. Sie spielen auf originalen Instrumenten der Zeit oder Nachbauten in historischer Bauweise. Durch ein Zusammenspiel von Repertoire, Raum und Spielweise wird so eine besonders stimmige Atmosphäre und ein möglichst authentisches Klangerlebnis erreicht. Der Name ad·petram spielt dabei auf den lateinischen Namen des Klosters Mariastein, Monasterium Beinwilense ad petram B.M.V., an.

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Das internationale Vokalensemble InVocare setzt sich zusammen aus Sängern von fünf verschiedenen Kontinenten. In variablen Besetzungsgrößen von 4 bis hin zu 12 Sängern treten die Absolventen der Basler Schola Cantorum in Konzerten und Festivals in ganz Europa auf. So waren sie zuletzt Gast bei Festivals wie der Münchner Residenzwoche, dem MAfestival, Brügge, dem Festival Oude Muziek Utrecht und wurden für die International Young Artist Presentation in Antwerpen ausgewählt.

„Wunderbar frisch und prägnant, aber auch exzellent klangvoll homogen“ (Süddeutsche Zeitung, Oktober 2018) widmen sich die jungen Sänger neben geistlicher Renaissance-Polyphonie vor allem weltlicher Literatur aus dem englischen und italienischen Sprachraum.
InVocare sucht stets die Herausforderung, Madrigale und Motetten auf lebendige Art darzustellen. Ein besonderes Markenzeichen sind dabei abwechslungsreiche Aufstellungen im gesamten Raum und bei weltlichem Repertoire teilweise szenische Darstellungen im Konzert. Darüber hinaus ist dem Ensemble die Erforschung, wissenschaftliche Aufarbeitung und lebendige musikalische Darbietung hochkarätiger Vokalmusik des späten 15. bis hin zum 17. Jahrhunderts ein besonderes Anliegen.


Nach Konzerten im September 2021 in Basel und Augsburg, präsentieren die Ensembles ad·petram und InVocare am 14. August 2022 um 17 Uhr in der Klosterkirche Muri (Schweiz) erneut ein Johann Melchior Gletle und Johann Caspar Kerll gewidmetes Programm.

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